Kapitel 2
Umgeben von einem Silbernebel aus Schmerz schwebte Abby in einer Welt, die nicht ganz real war.
War sie tot?
Ganz sicher nicht. Dann würde sie in Frieden ruhen, oder? Und dann hätte sie nicht das Gefühl, dass ihre Knochen langsam zermalmt würden und ihr Kopf kurz vor der Explosion stünde.
Wenn sie tot war, dann war diese ganze Sache mit dem Leben nach dem Tod ein großer, fetter Schwindel.
Nein. Sie träumte wohl, versicherte sie sich schließlich selbst. Das würde bestimmt auch erklären, warum der Silbernebel sich zu teilen begann.
Neugierig trotz des vagen Geruchs von Angst in der Luft spähte sie durch das schimmernde Licht. Nur wenige Augenblicke später erkannte sie eine düstere Kammer, die von einer flackernden Fackel nur schwach erleuchtet wurde. Mitten auf dem Steinboden lag eine junge Frau in weißen Gewändern. Ihr blasses Gesicht erschien Abby auffallend vertraut, auch wenn es schwer war, die genauen Gesichtszüge zu erkennen, da die Frau, die offensichtlich Todesqualen litt, sich wand und schrie.
Um ihre ausgestreckte Gestalt herum saßen Frauen in grauen Umhängen im Kreis. Sie hielten sich an den Händen und sangen mit leiser Stimme. Abby konnte die Worte nicht verstehen, aber es kam ihr vor, als ob sie irgendein Ritual durchführten. Vielleicht einen Exorzismus. Oder eine Verzauberung.
Langsam stand eine grauhaarige Frau auf und streckte ihre Hände zur dunklen Decke.
»Auferstehe, Phönix, und entfalte deine Macht!«, rief sie mit dröhnender Stimme. »Das Opfer wurde gebracht, das Bündnis besiegelt. Segne unseren edlen Kelch. Segne ihn mit deiner Herrlichkeit. Biete ihm die Macht deines Schwertes, um das drohende Böse zu bekämpfen. Wir rufen dich. Komme hervor!«
Purpurrote Flammen flackerten durch die Kammer, während die Frauen weiterhin sangen, und schwebten in der verrauchten Luft, bevor sie die schreiende Frau auf dem Boden einkreisten. Und dann verschmolzen die Flammen so jäh, wie sie aufgetaucht waren, mit dem Fleisch der Frau.
Plötzlich wandte die grauhaarige Frau ihr Gesicht einer dunklen Ecke zu.
»Die Prophezeiung wurde erfüllt. Holt die Bestie.«
In der Erwartung, irgendein scheußliches fünfköpfiges Ungeheuer zu sehen, das sehr gut in diesen bizarren Albtraum gepasst hätte, hielt Abby den Atem an. Aber es wurde ein Mann, der mit einem weißen Rüschenhemd und einer Satinkniebundhose bekleidet war, herbeigebracht. Ein schweres Halsband aus Metall an einer Kette hing ihm um den Hals. Sein Kopf war gesenkt, so dass sein langes, rabenschwarzes Haar sein Gesicht verdeckte. Dennoch jagte eine ungute Vorahnung Abby einen kalten Schauder über den Rücken.
»Kreatur des Bösen, du wurdest unter allen ausgewählt«, intonierte die Frau. »Bösartig ist dein Herz, und doch bist du gesegnet. Im Schatten des Todes binden wir dich. In alle Ewigkeit und darüber hinaus binden wir dich.«
Mit einem Mal flackerte die Fackel auf, und der Mann hob mit einem entsetzlichen Knurren den Kopf.
Nein. Das war nicht möglich. Nicht einmal in der merkwürdigen und absurden Welt der Träume. Und insbesondere nicht in einer, die sich so entsetzlich real anfühlte.
Aber man konnte seine beängstigende Schönheit einfach nicht verkennen. Oder die glühenden silbernen Augen.
Dante.
Abby erschauderte vor Entsetzen. Das hier war Wahnsinn. Warum sollten diese Frauen ihn in Ketten gelegt haben? Warum sollten sie ihn ein Monster nennen? Eine Kreatur des Bösen?
Wirklich Wahnsinn. Ein Traum. Und nicht mehr, wie sie sich selbst zu überzeugen versuchte.
Und dann, ohne Vorwarnung, verwandelte sich das Unbehagen in eine schreckliche, unbändige Angst. Voller Wut warf Dante den Kopf in den Nacken, so dass die perfekten Alabasterzüge in flackerndes Licht getaucht wurden. In dasselbe flackernde Licht, das seine langen, tödlichen Fangzähne enthüllte.
Als Abby schließlich wieder erwachte, waren der Silbernebel und der schlimmste Schmerz verschwunden.
Trotzdem zwang sie sich mit ungewöhnlicher Vorsicht, vollkommen bewegungslos liegen zu bleiben. Nach dem Tag, den sie bereits hinter sich hatte, schien es ihr in diesem Moment nicht ratsam, auf ihre übliche Weise vorwärtszustürmen und in Schwierigkeiten zu geraten. Stattdessen versuchte sie, sich einen Überblick über ihre Umgebung zu verschaffen.
Zu guter Letzt kam sie zu der Schlussfolgerung, dass sie auf einem Bett lag. Allerdings war es nicht ihr eigenes Bett. Diese Matratze hier war hart und klumpig und verströmte einen muffigen Geruch, über den sie nicht einmal nachdenken wollte. In der Ferne konnte sie die Geräusche von vorbeiströmendem Verkehr hören, und etwas näher ertönte der leise Klang von Stimmen oder vielleicht einem Fernsehgerät.
Sie befand sich also nicht in Selenas halb verkohltem Haus. Sie war nicht länger in einem klammen Kerker, zusammen mit schreienden Frauen und Dämonen. Und sie war nicht tot.
Das bedeutete doch sicher einen Fortschritt, oder?
Abby nahm all ihren Mut zusammen. Langsam hob sie den Kopf von dem Kissen und blickte sich in dem dunklen Zimmer um. Es gab nicht viel zu sehen. Das Bett, auf dem sie lag, nahm den größten Teil des engen Raumes ein. Um sie herum waren kahle Wände und die hässlichsten geblümten Vorhänge zu erkennen, die je hergestellt worden waren. Vor dem Bett befand sich eine kaputte Kommode, auf der ein uralter Fernseher stand, und in der Ecke war ein schäbiger Stuhl zu sehen.
Ein Stuhl, auf dem derzeit ein großer Mann mit rabenschwarzem Haar saß.
Oder war er überhaupt kein Mann?
Abbys Herz zog sich angstvoll zusammen, als ihr Blick über den schlummernden Dante glitt. Du meine Güte. Sie musste wohl wahnsinnig sein, um das zu denken, was sie gerade dachte.
Vampire? Die in Chicago lebten... oder was auch immer Vampire taten. Das war verrückt. Vollkommen durchgedreht. Wahnsinn.
Aber der Traum - er war so lebendig gewesen. So realistisch. Sogar jetzt noch konnte sie die faulig stinkende, feuchtkalte Luft und die beißende Flamme der Fackel riechen. Sie konnte immer noch die Schreie und den Gesang hören. Sie konnte noch immer das Gerassel schwerer Ketten wahrnehmen. Sie konnte sehen, wie Dante vorwärts gezerrt wurde, und sie konnte die Fangzähne sehen, die ihn als Bestie kennzeichneten.
Ob es nun wirklich war oder nicht, es hatte sie so nervös gemacht, dass sie sich etwas Raum zwischen sich und Dante wünschte. Und vielleicht mehrere Kreuze, ein paar Holzpflöcke und eine Flasche mit Weihwasser.
Abby getraute sich kaum zu atmen. Leise setzte sie sich auf und schwang die Beine über den Rand der Matratze. Ihr Kopf drohte zu explodieren, aber sie biss die Zähne zusammen und stand mühsam auf. Sie wollte hier raus.
Sie wollte in ihr vertrautes Zuhause, zu ihren vertrauten Sachen.
Sie wollte diesem Albtraum entkommen.
Einen Fuß unsicher vor den anderen setzend, bewegte sich Abby durch den Raum. Sie war kurz davor, nach dem Türknauf zu greifen, als sie hinter sich ein sehr leises Rascheln hörte. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und dann umschlagen sie zwei stahlharte Arme.
»Nicht so schnell, Liebste«, murmelte eine dunkle Stimme direkt in ihr Ohr.
Einen Augenblick lang setzte ihr Gehirn aus, und sie war wie gelähmt. Und dann gewann die nackte Angst die Oberhand.
Abby drückte den Rücken durch und versuchte verzweifelt, nach Dantes Beinen zu treten. »Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich gehen!«
»Gehen?« Sein Griff wurde bei ihren Bemühungen nur noch fester. »Sage mir, Süße, wohin beabsichtigst du denn zu gehen?«
»Das geht Sie überhaupt nichts an.«
Überraschenderweise lachte er kurz und humorlos auf.
»Meine Güte, Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mir wünsche, das sei wahr. Wir wurden beide befreit, ist dir das klar? Wir waren frei. Die Ketten waren zerbrochen.«
Abby hielt bei seinen harten, anklagenden Worten inne. »Was meinen Sie damit?«
Er streifte auf eine seltsam vertrauliche Art mit seinem Gesicht über ihren Scheitel, bevor er Abby energisch umdrehte, damit sie ihn ansah.
»Ich meine: Hättest du deine wunderschöne Nase aus Angelegenheiten herausgehalten, die dich nichts angingen, dann hätten wir beide fröhlich unserer Wege gehen können. Jetzt betrifft es mich allerdings wegen deiner Florence-Nightingale-Aktion sehr wohl, wohin du gehst, was du tust, und auch, was du verdammt noch mal denkst.«
Worüber redete er da, zum Teufel? Das Letzte, was sie brauchte, waren noch mehr Schwierigkeiten.
»Sie sind verrückt. Lassen Sie mich gehen, sonst...«
»Sonst was?«, fragte er mit seidenweicher Stimme.
Gute Frage. Zu schade, dass sie keine brillante Antwort darauf hatte.
»Sonst... schreie ich.«
Er sah sie mit einem süffisanten Ausdruck an.
»Und du willst wirklich herausfinden, was für eine Art Held an diesem Ort zu deiner Rettung eilen wird? Was glaubst du wohl, wer es sein wird? Die Kokser der Gegend? Die Huren, die in der Eingangshalle auf Kunden warten? Ich würde mein Geld auf den Betrunkenen nebenan setzen. Es lag definitiv ein Hauch von Vergewaltigung in der Luft, als ich dich an ihm vorbeigetragen habe.«
Schlagartig begriff Abby, was es mit dem beengten Zimmer, dem Gestank und dem Widerhall von Verzweiflung auf sich hatte. Dante hatte sie in eins der unzähligen zwielichtigen Hotels gebracht, die auf die Armen und Verzweifelten ausgerichtet waren.
Wahrscheinlich hätte sie sich vor Ekel geschüttelt, wenn das nicht die geringste ihrer Sorgen gewesen wäre.
»Die könnten auch nicht schlimmer sein als Sie.«
Er versteifte sich bei ihren anklagenden Worten, und sein Gesichtsausdruck wurde vorsichtig. »Das sind ja ziemlich harsche Worte für den Mann, der dir durchaus das Leben gerettet haben könnte.«
»Ein Mann? Das sind Sie?«
»Was hast du gesagt?«
Seine Finger gruben sich in ihre Schultern, und mit einiger Verspätung wurde Abby bewusst, dass es vielleicht nicht unbedingt die klügste Entscheidung gewesen war, Dante direkt mit dieser Sache zu konfrontieren.
Trotzdem musste sie es wissen. Die Unwissenden mochten ja selig sein, aber unwissend zu sein war auch verdammt gefährlich.
»Sie... Ich habe Sie gesehen. Im Traum.« Sie erzitterte, als die Erinnerungen klar und deutlich vor ihrem geistigen Auge erschienen. »Sie lagen in Ketten, und die haben gesungen, und Ihre... Ihre Fangzähne...«
»Abby.« Er sah ihr tief in die Augen. »Setz dich, dann erkläre ich es dir.«
»Nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Was werden Sie mir antun?«
Seine Lippen verzogen sich bei ihrem scharfen Tonfall. »Obwohl mir bei verschiedenen Gelegenheiten mehrere verlockende Ideen durch den Kopf gegangen sind, habe ich im Augenblick nichts anderes vor, als mit dir zu reden. Beruhigst du dich lange genug, um mir zuzuhören?«
Allein die Tatsache, dass er nicht gelacht und ihr erzählt hatte, dass sie den Verstand verloren hätte, intensivierte Abbys Angst noch. Er wusste von dem Traum. Er erkannte ihn.
Abby ließ es zu, dass ihr Instinkt die Oberhand gewann, und zwang sich, eine Resignation vorzutäuschen, die sie bei Weitem nicht empfand.
»Habe ich denn eine andere Wahl?«
Er zuckte mit den Achseln. »Eigentlich nicht.«
»Also gut.«
Schwach folgte Abby Dante zum Bett und wartete, bis Dante von seinem Sieg überzeugt war. Dann stieß sie ihn heftig mit beiden Händen weg. Da er darauf nicht gefasst gewesen war, taumelte er, und eilig rannte sie auf die Tür zu.
Sie war schnell. Dadurch, dass sie mit fünf älteren Brüdern aufgewachsen war, war sie sehr geübt darin, vor einer möglichen Prügelei wegzulaufen. Aber zu ihrem großen Schrecken umschlangen Dantes Arme sie und hoben sie hoch.
Mit einem erstickten Schrei packte sie zwei Handvoll seiner seidigen Haare. Er knurrte leise, als sie heftig daran riss. Dann grub sie die Nägel einer Hand in sein Gesicht.
»Verdammt noch mal, Abby«, fluchte er, und sein Griff lockerte sich, als er versuchte, ihren Angriff abzuwehren.
Abby hielt keine Sekunde inne, sondern wand sich aus seiner Umklammerung. Sie drehte sich um und platzierte einen Tritt, der sich im Laufe der Jahre als dazu geeignet erwiesen hatte, selbst den größten Mann zum Schreien zu bringen und außer Gefecht zu setzen. Dante keuchte auf, während er sich vor Schmerzen krümmte. Ohne eine Pause einzulegen, um ihr Werk zu bewundern, stürzte Abby zur Tür.
Dieses Mal gelang es ihr tatsächlich, den Türknauf zu berühren, bevor sie grob hochgezogen, über seine breite Schulter geworfen und zum Bett zurückgetragen wurde. Sie schrie wieder auf, als Dante sie mit Leichtigkeit auf die stinkende Matratze warf, um ihren sich wehrenden Körper mit einem viel größeren und härteren zu bedecken.
Mit mehr Angst, als sie in ihrem ganzen Leben je gehabt hatte, blickte Abby in Dantes Gesicht. Sie war sich deutlich seiner geschmeidigen Muskeln bewusst, die sich gegen sie pressten. Und des Wissens, dass sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war.
Unsicher, was jetzt geschehen würde, war sie überrascht, als er allmählich zu lächeln begann.
»Du verfügst über mächtige Waffen für so ein winziges Geschöpf, meine Liebste«, meinte er. »Hast du diese recht gemeinen Tricks schon oft ausprobiert?«
Irgendwie schaffte es seine Stichelei, ihr einen Teil ihrer ungeheuren Angst zu nehmen. Sicherlich würde er nicht so ausführlich mit ihr sprechen, wenn er nur vorhatte, sie auszusaugen. Es sei denn, natürlich, Vampire mochten ein wenig Unterhaltung vor dem Essen...
»Ich habe fünf ältere Brüder«, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Oh, das erklärt alles. Das Überleben des Stärkeren oder, in diesem Fall, das Überleben derjenigen mit den niederträchtigsten Tricks.«
»Gehen Sie von mir runter.«
Er sah sie mit hochgezogenen Brauen an. »Und riskieren, ein Eunuch zu werden? Nein danke. Wir beenden unser Gespräch ohne weiteres Kratzen, Haareziehen oder neue Tiefschläge.«
Sie starrte ihn wütend an. »Wir haben nichts zu besprechen.«
»O nein«, erwiderte er gedehnt, »nichts bis auf die Tatsache, dass deine Arbeitgeberin vor Kurzem gegrillt wurde, die Tatsache, dass ich ein Vampir bin, und die Tatsache, dass es dank deiner Dummheit jetzt jeder Dämon in der Umgebung auf dich abgesehen hat. Ansonsten gibt es überhaupt nichts zu besprechen.«
Gegrillte Arbeitgeberinnen, Vampire und jetzt auch noch Dämonen? Das war zu viel. Viel, viel zu viel.
Abby schloss die Augen, als sich ihr Herz vor Entsetzen zusammenkrampfte.
»Das hier ist ein Albtraum. Lieber Gott, bitte lass Freddy Krueger durch die Tür marschieren.«
»Es ist kein Albtraum, Abby.«
»Das ist nicht möglich.« Widerstrebend öffnete sie die Augen, um Dantes Blick zu begegnen. »Du bist ein Vampir?«
Er verzog das Gesicht. »Mein Erbe ist im Moment die kleinste deiner Sorgen.«
Erbe? Abby schluckte das hysterische Bedürfnis zu lachen herunter.
»Wusste Selena das?«
»Dass ich ein Vampir bin? O ja, das wusste sie.« Sein Ton war trocken. »Tatsächlich könnte man sagen, dass das eine Grundvoraussetzung für meine Einstellung war.«
Abby runzelte die Stirn. »Dann war sie auch ein Vampir?«
»Nein.« Dante schwieg einen Moment, als ob er seine Worte sorgfältig überdenken würde. Das war lächerlich, denn selbst wenn er sie darüber informiert hätte, dass Selena der leibhaftige Teufel gewesen sei, hätte sie nicht einmal mit einem Muskel zucken können, da er sie gnadenlos festhielt. »Sie war... ein Kelch.«
»Kelch?« Sie erbebte. Die Frau, die vor Schmerzen schrie. Die purpurroten Flammen.
»Der Phönix«, keuchte sie.
Er war überrascht. »Woher weißt du das?«
»Der Traum. Ich war in einem Kerker, und da lag eine Frau auf dem Boden. Ich glaube, die anderen Frauen haben irgendein Ritual mit ihr durchgeführt.«
»Selena«, flüsterte er. »Sie muss einen Teil ihrer Erinnerungen an dich weitergegeben haben. Das ist die einzige Erklärung.«
»Erinnerungen weitergegeben? Aber das ist...« Ihre Worte verklangen, als er spöttisch zu lächeln begann.
»Unmöglich? Meinst du nicht, dass wir schon etwas weiter sind?«
Doch, schon, natürlich. Sie war in irgendeine bizarre Welt gestolpert, in der alles möglich war. Wie bei Alice im Wunderland.
Nur dass es hier statt verschwindender Katzen und weißer Kaninchen Vampire und mysteriöse Kelche gab und wer weiß, was noch alles.
»Was haben die ihr angetan?«
»Sie haben sie zu einem Kelch gemacht. Zu einem menschlichen Gefäß für ein mächtiges Wesen.«
»Also waren diese Frauen Hexen?«
»Es gibt wohl keinen besseren Begriff dafür.«
Na toll. Einfach ganz wundervoll. »Und sie haben Selena mit einem Bann belegt?«
»Es war viel mehr als ein Bann. Sie riefen den Geist des Phönix herbei, damit er in ihrem Körper leben kann.«
Abby konnte beinahe die purpurroten Flammen spüren, die das Fleisch der Frau verbrannt hatten.
»Kein Wunder, dass sie geschrien hat. Was tut dieser Phönix?«
»Er ist eine... Barriere.«
Abby beäugte Dante misstrauisch. »Eine Barriere wogegen?«
»Gegen die Dunkelheit.«
Oh, das machte alles ja so klar wie Kloßbrühe. Ungeduldig wand sich Abby unter dem Mann, der sie auf das Bett presste.
Ein schlechter, sehr schlechter Schachzug.
Als sei sie unvermutet von einem Blitz getroffen worden, wurde sie sich lebhaft seines stahlharten Körpers bewusst, der sich gegen ihren eigenen drückte. Ein Körper, der sie mehr als nur ein paar Nächte im Traum verfolgt hatte.
Dante biss bei ihren unabsichtlich provokativen Bewegungen die Zähne zusammen, während seine Hüften instinktiv reagierten.
»Denkst du, du könntest vielleicht noch etwas ungenauer sein?«, stieß Abby hervor.
»Was soll ich denn sagen?«, fragte er krächzend.
Sie bemühte sich, sich zu konzentrieren. Großer Gott. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um... um an so etwas zu denken.
»Etwas Klareres als >die Dunkelheit<.«
Es folgte ein Moment des Schweigens, als ob er mit sich selbst kämpfte. Aber schließlich blickte er ihr direkt in die Augen.
»Also gut. Die Dämonenwelt spricht vom Fürsten der Finsternis, aber in Wahrheit handelt es sich dabei nicht um ein echtes Lebewesen. Es ist eher ein... Geist, so wie der Phönix ein Geist ist. Eine Essenz der Macht, die von den Dämonen beschworen wird, wenn diese ihre dunklen Fähigkeiten verbessern wollen.«
»Und der Phönix tut diesem Fürsten etwas an?«
»Die Anwesenheit des Phönix unter den Sterblichen hat den Fürsten aus dieser Welt verbannt. Sie sind zwei Gegensätze. Beide können sich nicht zur gleichen Zeit auf derselben Ebene befinden. Nicht, ohne dass beide vernichtet werden.«
Nun ja, das schien etwas Gutes zu sein. Der erste Hoffnungsschimmer an einem sehr düsteren Tag.
»Also keine Dämonen mehr?«
Er zuckte mit einer Schulter. »Sie leben noch, aber ohne die spürbare Präsenz des Fürsten sind sie geschwächt und chaotisch. Sie finden sich nicht länger zusammen, um in Scharen anzugreifen, und sie jagen nur selten Menschen. Sie wurden in den Schatten gezwungen.«
»Das ist gut, nehme ich an«, meinte Abby langsam. »Und Selena war diese Barriere?«
»Ja.«
»Warum?«
Er blinzelte angesichts der abrupten Frage. »Warum?«
»Warum wurde sie ausgewählt?«, stellte Abby klar. Sie war sich nicht sicher, warum sie das überhaupt kümmerte. Sie wusste nur, dass ihr das im Moment wichtig zu sein schien.
»War sie eine Hexe?«
Merkwürdigerweise schwieg Dante einen Augenblick lang, fast so, als ob er darüber nachdachte, ihre Frage nicht zu beantworten. Das war lachhaft, nach allem, was er ihr bereits verraten hatte. Was konnte denn schon schlimmer sein als die Tatsache, dass sie von einem Vampir gefangen gehalten wurde? Oder dass die Person, die alle unheimlichen, schlimmen Dinge in der Nacht ferngehalten hatte, jetzt tot war?
»Sie wurde eigentlich nicht ausgewählt, sondern von ihrem Vater geopfert«, gestand Dante schließlich widerwillig.
»Sie wurde von ihrem Vater geopfert?«
Abby blinzelte überrascht. Zum Teufel, sie hatte immer gedacht, ihr Vater sei der Favorit für den Scheißkerl des Jahres. Er war ein brutales Arschloch gewesen, dessen einzige Leistung es gewesen war, seine Familie für eine Flasche Whisky fallen zu lassen.
Allerdings hatte er Abby nicht einer Horde wahnsinniger Hexen zum Fraß vorgeworfen.
»Wie konnte er sowas tun?«
Dantes elegante Gesichtszüge versteinerten sich vor uralter Wut. »Ganz einfach. Er war mächtig, reich und daran gewöhnt, in allen Dingen seinen Willen zu bekommen. Oder zumindest war es so, bevor ihn die Krankheit befiel. Im Gegenzug für seine Heilung gab er den Hexen seine einzige Tochter.«
»Meine Güte, wie furchtbar!«
»Ich nehme an, er dachte, es sei ein gerechter Handel. Er wurde geheilt, und seine Tochter wurde unsterblich.«
»Unsterblich?« Abby hielt den Atem an. Plötzlich schöpfte sie wieder Hoffnung. »Dann lebt Selena noch?«
Dantes Gesicht nahm einen noch härteren Ausdruck an.
»Nein, sie ist definitiv tot.«
»Aber wie...?«
»Ich weiß es nicht.« Seine Stimme klang rau und ließ seine unterdrückten Gefühle erahnen. »Zumindest noch nicht.«
Abby biss sich auf die Unterlippe und versuchte, ihren schmerzenden Kopf dazu zu bringen, sich die Folgen eines solchen Todes vorzustellen.
»Dann ist der Phönix verschwunden?«
»Nein, er ist nicht verschwunden. Er ist...« Ohne Vorwarnung sprang Dante mit einer fließenden Bewegung auf und drehte den Kopf in Richtung der geschlossenen Tür. Ein angespanntes Schweigen erfüllte den Raum, bevor er schließlich den Blick wieder auf Abbys erschrockenes Gesicht richtete.
»Abby, wir müssen gehen. Jetzt sofort.«